
Heute ist Jom Hascho’ah. Eigentlich heisst er „יום הזיכרון לשואה ולגבורה“ (Jom HaSikaron laScho’ah velaGvurah), also „Tag der Erinnerung an den Holocaust und das Heldentum“.
Warum? Weil alle, die das Glück hatten, den Holocaust zu überleben, Helden sind. Unfreiwillig, versteht sich. Wahre Helden würden alles dafür tun, keine Helden sein zu müssen.
Ich habe an die Scho’ah meinen Großvater und seine ganze Familie verloren. Sein Sohn, mein Vater, hat überlebt. Auch er ist ein Held, er musste ein Held sein schon als kleines Kind. Ein Held, der ohne Vater aufwuchs, ein Held, der die englischen Bomben auf Hamburg überlebte, ein Held, der aus Auschwitz „nie wieder“ gelernt hat. Nicht das „nie wieder Krieg“ der brav geläuterten Deutschen, sondern das „nie wieder wehrlos“ der überlebenden Juden. Nie wieder werden wir, wird das Jüdische Volk, zulassen, dass man uns abschlachtet. Wir haben eine jüdische Armee mit modernen Waffen, die wir zum Teil selbst entwickeln und an Länder wie Deutschland und die USA verkaufen oder vermieten. Wir sind keine Bittsteller mehr und betteln nicht um unser Leben. Wir bekämpfen die, die uns danach trachten.
Eigentlich wollte ich mit meinem ältesten Sohn zu einer der Feiern gehen, die in ganz Israel heute Abend begangen wurden. Wir schafften es zeitlich nicht und blieben zuhause. Stattdessen verfolgten wir im Fernsehen die Feierlichkeiten, den Tekkes zu Jom Hascho’ah in der Holocaustgedenkstätte Yad Vashem. Die politische, militärische und religiöse Elite des Landes war dort versammelt. Benjamin Netanjahu liess es sich nicht nehmen, bei der Erinnerung an den Holocaust vor 70 Jahren an den heute vom Iran geplanten zu erinnern. Ich finde, er schenkte den Ajatollahs viel zu viel Aufmerksamkeit bei einer so emotionalen Feier. Aber so ganz übel nehmen kann ich es ihm nicht. Denn Hitler hat es damals auch keiner zugetraut, dass er umsetzen würde, was er ohne Scheu angekündigt hat. Man dachte, mit dem Münchener Abkommen 1938, den man erwartungsvoll „Münchener Frieden“ nannte, hätte man Hitler unter Kontrolle gebracht. Heute denkt Obama und der Westen das selbe über das Atomabkommen mit dem Iran.
Was haben wir also aus der Scho’ah gelernt? Man soll Verbrechern glauben, wenn sie sagen, sie wollen dich ermorden, vertreiben, ausradieren! Wir glauben dem Iran, wenn er sagt, er will uns von der Landkarte tilgen. Kann man es also Netanjahu wirklich verübeln, dass er diese Bühne genutzt hat für eine Tirade gegen den Iran?
Auf den Jom Hascho’ah Feiern werden sechs Feuer gezündet. Jedes Feuer steht für eine der sechs Millionen jüdischer Opfer des Holocaust. Überlebende bekommen die Aufgabe, die Feuer zu entzünden. Auf der Veranstaltung im Yad Vashem heute Abend wurden in kurzen Einspielfilmen die Geschichten der sechs Überlebenden erzählt, bevor sie von einem ihrer Enkel eine brennende Fackel übergeben bekamen, mit der sie das Feuer anzündeten.
Die Geschichten haben meine Frau und mich zu Tränen gerührt. Vor allem die letzte Geschichte von einer Frau, die als kleines Kind ihre gesamte Familie sterben sah und als Vollwaise nach Israel kam. „Vollwaise“ ist dabei eine Untertreibung! Das junge Mädchen war mutterseelenallein, sie hat alles und alle verloren. Sie war nicht nur die einzige Überlebende ihrer Familie, ihr gesamtes Dorf wurde abgeschlachtet, alle!
Aber komplett wehrlos gegen meine Tränen wurde ich, als sie weinend vor Trauer und Glück von ihrer großen Familie, die sie heute hier hat, erzählte. Man sah ein Foto von mindestens 30 Menschen, die sie umringten. Und sie sagte: Das sind alles meine! Meine Familie! Und sie weinte.
Trauer und Glück liegen so nah beisammen und doch versuchen wir oft, sie zu trennen. Warum? Ohne die Scho’ah hätten wir wohl heute nicht das Glück, den Staat Israel zu haben. Wenn ich mich also über dieses wunderbare Land freue, „freue“ ich mich dann auch über den Mord an sechs Millionen Menschen? Über den Mord an meinem eigenen Großvater? Nein, natürlich nicht. Ich kann gleichzeitig trauern und feiern. Genau wie die Überlebende mit ihrer großen Familie, die sie verlor und der noch größeren, die sie heute hat.