es war schön und schön, dass es war, würde eine Freundin aus Hamburg sagen. So fühle ich mich. Ich meine, wir leben seit 2010 in Israel und haben schon Kriege miterlebt und doch haben wir dich nicht kommen sehen.
2020, du hast mir so viele tolle und erfolgreiche Erfahrungen gegeben, du hast mir aber auch viel Schmerz und Angst zugefügt.
Als du kamst, 2020, war ich voller Vorfreude. Zusammen mit meiner großartigen Co-Founderin vom Media TLV, Susanne Glass, haben wir im März den ersten israelisch-europäischen Mediengipfel im Herzen von Tel Aviv geplant. Du hast uns verletzt, als wir kurz davor, es absagen mussten. Aber wir haben uns nicht unterkriegen lassen. Wir wollten es dir beweisen. Wir schaffen es auch mit den Steinen, die du, 2020, uns in den Weg legst. Denn der Kampf für Demokratie treibt Susanne und mich an und nicht die Angst vor dir. Also haben wir den Media TLV online gemacht. Da warst du überrascht, oder?
Auch für unsere Familie hast du Kummer gebracht. Aber auch Nähe.
Vor Frust habe ich geweint, weil es unmöglich war, mit drei Kindern zu Hause zu arbeiten und den Kindern Bildung zu geben, auch zu Hause.
Du, 2020, hast uns aber auch gezeigt, wie viel Spaß und Nähe mein Mann, unsere Kinder und ich haben. So viel intensive Zeit hatten wir schon lange nicht mehr, wahrscheinlich noch nie.
Du hast mich motiviert, neue Projekte auszuprobieren.
Ich habe Online Shows gestartet, eine davon mit Sarah Fantl. Kurz bevor du abhauen konntest, haben wir sogar noch ein Podcast gestartet. Nicht schlecht, oder?
Auch mein Unternehmen ist gewachsen, und das obwohl du da warst. Dir, 2020, zum Trotz haben wir neue Partnerschaften geschlossen. Wir sind dir dankbar für den Arschtritt bei der einen oder anderen Business Entscheidung. Wir sind aber auch froh, wenn du endlich gehst.
2020, du hast uns unsere Eltern nicht sehen lassen, weil sie in Deutschland sind. Dafür sind wir echt sauer auf dich.
Aber wie dieser kitschige Spruch schon sagt, nach dem Tief kommt ein Hoch. Und davon planen wir so einige.
Also Tschüß, 2020, wir werden dich nicht vergessen aber auch nicht vermissen.
Als George Floyd im Mai dieses Jahres von einem Amerikanischen Polizisten ermordet wurde, gab es einen weltweiten Aufschrei. „I can’t breathe!“ stand als Graffiti an den Wänden und die Hashtags #BLM und #BlackLivesMatter trendeten weltweit in den Sozialen Medien.
Auch mich hat das Schicksal von George Floyd berührt. Nicht nur seinetwegen. Seine Ermordung hat ein grelles Scheinwerferlicht auf den strukturellen Rassismus in Amerika geworfen und die weltweite Bewegung, die daraus entstand, hat auch in anderen Teilen der Welt und in Deutschland dafür gesorgt, dass rassistische Strukturen in der Gesellschaft allgemein und in der Polizei im speziellen, stärker ans Tageslicht kamen. Es ist kein Wunder, dass ausgerechnet 2020 die diversen Nazi-Chatgruppen deutscher Polizisten entdeckt wurden. Menschen sind sensibilisiert und hatten den Mut, sie öffentlich zu machen.
Auf Twitter, wo ich zu viel Zeit verbringe, habe ich „Black Lives Matter“ in meinen Header mit aufgenommen. Seit über einem halben Jahr ist er da drin und ich habe mehrfach überlegt, ihn zu entfernen. Schließlich werden gerade andere Säue durchs Dorf getrieben und Themen wie Moria und natürlich der immer gewalttätiger zum Vorschein tretenden Antisemitismus sind mir auch nah und wichtig. Aber ich habe mich dagegen entschieden. BLM bleibt leider immer aktuell.
Ich wurde deswegen mehrfach auf Twitter angegangen. Von linken Antizionisten sowie von rechten Israelis. Beide finden, BLM und Zionist kann man nicht gleichzeitig sein. Warum nicht?
Die Antizionisten glauben, der Zionismus wäre eine rassistische Ideologie und daher inkompatibel mit BLM. Das ist natürlich Quatsch. Deswegen juckt mich dieser Vorwurf auch gar nicht. Schwerer wiegt da der Vorwurf der anderen Seite, die mich darauf hinweisen, dass unter den BLM Aktivisten auch viele Antisemiten den Ton angeben.
Der strukturelle Rassismus ist ein Problem, das jeden Menschen mit Nicht-weißer Hautfarbe betrifft. Egal, ob er Antisemit ist, oder nicht. Ich werden meine Unterstützung für diesen wichtigen Kampf nicht davon abhängig machen, ob Antisemiten bei BLM beteiligt sind oder nicht. Es gibt auch rassistische Juden, und dennoch freue ich mich über jede PoC, die den Kampf gegen Antisemitismus unterstützt.
„Aber die Querdenker lehnst Du doch auch ab, weil dort Nazis mitlaufen!“ – Ja. Sie laufen dort aber nicht nur mit, die ganze Idee der Querdenker ist eben keine einfache, legitime Kritik an Coronamaßnahmen der Bundesregierung, sie beruht auf antisemitisch aufgeladenen Verschwörungsmythen und die Nazis sind ideell bei diesen Demos zuhause. Ein antisemitischer BLM-Aktivist dagegen agiert im Grunde gegen seine eigenen Interessen.
Rassismus und Antisemitismus sind nicht das selbe. Ganz und gar nicht. Die Diskriminierungserfahrungen sind andere und die Mechanismen sind es auch. Als hellhäutiger Jude kann ich als „white passing“ vom Privileg, weiß zu sein profitieren, was PoC nicht können. Andererseits ist Antisemitismus im Kern eliminatorisch und zielt auf die „Endlösung“, während Rassismus die (erneute) Versklavung und Unterwerfung von PoC anstrebt. Gemeinsam haben sie, dass beides ist für einen direkt Betroffenen regelmäßig tödlich ist und die Schnittmenge der Antisemiten und Rassisten ist riesig. Wir haben einen gemeinsamen Gegner. Natürlich müssen wir uns gegenseitig beistehen.
Es ist schon ein paar Jahre her, da habe ich in der WELT einen Artikel veröffentlicht, der den Titel hat „Israel zeigt, dass ethnisches Profiling hilft„, der zuerst hier im Blog erschien. Es war 2016, um genau zu sein, und damals wurde Europa von vielen islamistischen Anschlägen erschüttert. Im Text geht es um ein Einkaufszentrum in Jerusalem, in dem ich regelmäßig war und das von Juden und Arabern gleichermaßen besucht wird. Die Araber aber werden genauer kontrolliert, wenn sie das Zentrum betreten wollen. Ich bin mit dem Titel des Artikels auf welt.de nicht einverstanden. War ich schon damals nicht, aber die Redaktion hat ihn eigenmächtig gesetzt. Ich hatte einen anderen gewählt. Und ich würde den Text heute auch nicht mehr so schreiben. Die redaktionelle Verkürzung in der WELT hat den Text zusätzlich noch verschärft. Ich verstehe heute einiges besser, auch dank einiger toller Menschen, die ich auf Twitter kennengelernt habe, und die islamistischen Anschläge von damals belasten mich emotional nicht mehr so direkt. Dennoch kann und will ich mich nicht komplett von diesem Artikel distanzieren.
„Wie kannst Du Racial Profiling gut finden und #BLM im Header haben? Heuchler!“ So wurde es mir vorgeworfen. Dazu muss ich sagen: Ich habe damals bewusst von „Ethnischem Profiling“ gesprochen. Juden und Araber sind äußerlich nur durch Kleidung und Sprache zu unterscheiden und nicht anhand irgend welcher eingebildeten Menschenrassen. Und außerdem, wenn man den Text wohlwollend liest, dann steht dort eigentlich: Ethnisches Profiling funktioniert nicht außerhalb dieses Spezialfalls des Einkaufszentrums in Jerusalem, wo nach der harten Kontrolle an der Tür eben keine Unterschiede mehr gemacht werden und Juden und Araber zusammen mit der ganzen Familie bequem shoppen gehen und ihr Essen essen. Racial Profiling ist ethisch falsch und praktisch unbrauchbar. Ohne Ausnahme.
Also ja. Ich unterstütze #BLM. Ich werde es weiter tun. Und ich kenne meine Privilegien. Als „white passing“ in Europa und als Jude in Israel. Denn wer seine Privilegien nicht begreift, wer sich selbst nicht reflektiert, dessen Unterstützung ist sowieso nicht viel wert.
Dieses Jahr sind wir dank des hebräischen Kalenders schon lange fertig mit Chanukkah, wenn die Christen ihr Weihnachten feiern. Ich wünsche schon jetzt allen, die es feiern, von ganzem Herzen: Frohe Weihnachten!
Diese Wünsche sind in in diesem Jahr überschattet von dem Lockdown, der coronabedingt das Weihnachtenfeiern in Deutschland stark einschränkt. Ich selbst vermisse Weihnachten nicht, kann mir aber gut vorstellen, dass es vielen Menschen nah geht, ihren Liebsten nicht nah sein zu können.
Mein Freund Matthias antwortete mal auf die Frage, wie er und seine Familie denn Weihnachten feiern werden: Wir essen viel, streiten uns und schenken uns Dinge, von denen wir in spätestens zwei Wochen wissen, dass wir sie nie gebraucht haben. Also, so oder so ähnlich hat er es gesagt.
Und so ähnlich habe ich auch Weihnachten in meiner Kindheit in Erinnerung. Streit und Essen gab es quasi immer. Geschenke auch, um die es dann auch oft noch mehr Streit gab. Der Baum war hübsch, das Essen gut, immerhin.
Der Name des Festes ist interessant. Hier eine Tabelle in verschiedenen Sprachen:
Sprache
Wort
Bedeutung
Englisch
Christmas
Christus (Messias) Fest
Französisch
Noël
Geburtsfest
Spanisch
Navidad
Geburtsfest
Hebräisch
(Chag HaMoled) חג המולד
Geburtsfest
Italienisch
Natale
Geburtsfest
Dänisch
Jul
Germanischer Kalendermonat Dezember
Holländisch
Kerstmis
Christus (Messias) Fest
Deutsch
Weihnachten
Chanukkah
Die meisten Sprachen nennen das Weihnachtsfest nach dem, was der Überlieferung nach passiert ist: Der Messias (Christ) wurde geboren. Schließlich feiert man seinen Geburtstag (und acht Tage später, nach guter jüdischer Tradition, seine Beschneidung am 1. Januar). Die Dänen stechen heraus, da sie den Festnamen am Kalender fest machen. Und die Deutschen? Die nennen ihr Lichterfest im Winter einfach Chanukkah!
Das hebräische Wort Chanukkah bedeutet Weihe. Es geht dabei um die Wiedereinweihung des Tempels in Jerusalem nach der Entweihung durch die Griechen. Zur Weihung braucht man Olivenöl für den Leuchter und davon war nur noch so wenig da, dass es nur einen Tag gereicht hätte. Aber wie durch ein Wunder, hielt das Öl ganze acht Tage. So lange hat es gedauert, neues Öl zu besorgen.
Das ist in etwa so, wie wenn ihr morgens auf dem Smartphone noch 10% Batterie habt, aber es dennoch den ganzen Tag durchhält.
Warum ich das erzähle? Damit deutlich wird, dass nicht nur der Name fast gleich ist, auch die Bräuche von Weihnachten in Deutschland und Channukkah ähneln sich stark:
Datum: Beides wird am 25. des Monats gefeiert, der im jeweiligen Kalender üblicherweise in die Wintersonnenwende fällt. Also 25. Dezember oder 25. Kislev.
Abends: In den meisten Ländern wird am 25. tagsüber beschert. In Deutschland aber am 24. Abends. Jüdische Tage und damit auch Feiertage wie Chanukkah beginnen abends.
Kerzen 1: Die Chanukkah-Kerzen müssen ins Fenster gestellt werden, da ihr Zweck die öffentliche Verkündung des Chanukkah-Wunders ist. In Deutschen Haushalten werden zu Weihnachten die Fenster traditionell mit Kerzenständern und anderen Lichtern geschmückt.
Kerzen 2: Jeden Tag während des acht Tage andauernden Chanukkahfestes zündet man eine zusätzliche Kerze. Im Advent zündet man jeden Adventssonntag eine weitere Kerze.
Adventskalender: Auch hier werden die Tage gezählt, genau wie bei den acht Chanukkah-Kerzen.
Geschenke: Auch an Chanukkah bekommen die Kinder Geschenke oder einfach Chanukkah Gelt (mit t, weil es jiddisch ist) und man isst Karotten in Scheiben, die an Geldstücke erinnern sollen.
Familie: An Chanukkah feiert man mit der ganzen Familie. Jeder bekommt seinen eigenen Leuchter. Weihnachten ist ein Familienfest.
Glühwein: Zugegeben, eher eine zufällige Parallele. Juden trinken eigentlich zu jedem Anlass Wein.
Weihnachtsmann: Also, wenn Du mich fragst, sieht der aus wie ein Rabbi, dessen Klamotten rot gefärbt sind. Und daran ist ja nur Coca Cola (koscher) schuld (ich weiß, stimmt nicht). Und Bommelmützen tragen die Anhänger von Rabbi Nachman auch.
Messias: Das ist vielleicht ein wenig weit hergeholt. Aber hey, warum nicht, es geht schließlich um Religion, da ist argumentativ meist kein Weg zu weit. Chanukkah feiert das Olivenölwunder und das hebräische Wort Moschiach (Messias) bedeutet: Der Gesalbte. Die Salbung erfolgt mit Olivenöl.
Essen: Immer im Januar sind Frauen- und Männerzeitungen voll mit Diättipps. Im Rest des Jahres zwar auch, aber im Januar geht es im Besonderen darum, den sog. Weihnachtsspeck wieder los zu werden. An Chanukkah essen wir lauter in Öl gebratene oder gebackene Dinge: Kartoffelpuffer, Berliner (Pfannkuchen, Kreppel, etc.), gebratene Karottenscheiben (s.o.) und vieles mehr. Das Öl setzt sich dann im Körper gerne als Hüftgold ab.
Ch: Christkind und Channukkah fangen beide mit „Ch“ an. Das ist wohl eher zufällig und es ist deshalb eine Erwähnung wert, weil viel zu viele Menschen unser Fest falsch aussprechen. Das Ch klingt wie das in „Bach“. Und wenn ihr das nicht endlich lernt, sage ich ab heute „Schristkind“
Wie eng und vor allem, wie viel enger als andere Völker die Deutschen und die Juden bis zum Anfang des letzten Jahrhunderts zusammengelebt haben, erahnt man, wenn man sich diese Parallelen ansieht. Nicht umsonst ist das alte hebräische Wort für Deutschland „Medinat Aschkenas“. Aschkenasen sind die nord- und osteuropäischen Juden.
Ich wünsche allen, die dieses Fest feiern, dass es besinnliche Tage werden, mit schönem Baum, sinnvollen Geschenken, wenig Streit und gutem Essen!
Jetzt muss ich mich outen. Chanukka ist mein Lieblingsfeiertag!
In der Chanukka Geschichte geht es um ein Wunder aber auch um harte Arbeit und um Kampf. Die jüdische Philosophie und auch Religion basiert darauf, dass man sich alles selbst erarbeiten muss und Gott dabei nur eine zusätzliche Stütze ist.
In der Chanukka Geschichte haben die Macabäer den zweiten Tempel und Jerusalem von den Griechen zurückerobert und die Menora wieder angezündet.
Es ist viel einfacher, sich nur auf eine unsichtbare Kraft zu verlassen, aber als religiöser und jüdischer Mensch glaube ich nicht, dass es unsere Aufgabe ist.
Wir, Menschen sind auf der Erde, um etwas zum positiven aus eigener Kraft zu bewegen, anderen Menschen zu helfen und sich selbst zu verwirklichen.
Das ist der erste Grund, warum ich Chanukka liebe. Der zweite hat natürlich damit zu tun, dass es Sufganiyot und Latkes zu essen gibt.🤪
Gestern haben wir die erste Kerze gezündet. Jedes Familienmitglied hat eine eigene Chanukkia. Die Kinder haben Geschenke bekommen und wir haben natürlich Sufganyiot gegessen.
Aus dem Alltag ist die Maske nicht mehr wegzudenken. Sie dient dem Schutz anderer vor Corona und kann in gelebter Solidarität nicht nur vor schweren Krankheitsverläufen schützen, sondern sogar Leben retten. Dieser Wirkung trauen aber besonders Querdenker:innen nicht. Die Maske schütze nicht vor der Pandemie, sie sei vielmehr ein Symbol des Mundtotmachens kritischer Stimmen. Doch wer will hier wen mundtot machen? Verfolgt man die Reden auf Querdenken-Demonstrationen, so wird einem schnell klar, dass das Ablegen der Maske vor allem eine symbolische Wirkung erzielen soll. Die häufig als „Maulkorb“ bezeichneten Masken werden abgelegt im vermeintlichen Kampf um die Freiheit. Freiheit, sich wieder mit Menschen zu treffen, aber eben auch Freiheit, sich öffentlich zu radikalisieren und ein altes neues Feindbild über ein größeres, verschwörerisches Narrativ zu etablieren. Was zunächst aussieht wie ein Wunsch nach Ausbruch aus der Pandemie ist tatsächlich nur eine Maske für den eigentlichen Wunsch nach Ausbruch aus der Demokratie.
Von Schuldkult und Opferneid
Die Aussagen und Gedankenspiele auf Querdenken-Demonstrationen sind vielfältig, aber ähnlich im Inhalt. Von einer Studentin, die sich selbst mit Sophie Scholl gleichsetzt, weil sie sich im „Widerstand“ befände, über ein elfjähriges Mädchen, das von ihren Eltern dazu instrumentalisiert wird, zu sagen, sie lebe wie Anne Frank, bishin zu Menschen, die Judensterne auf Masken und andere Kleidungsstücke drucken und behaupten, sie seien „die neuen Juden“. Es finden sich verschiedene Formen der Anspielung auf das NS-Regime und schließlich auch auf die Shoa auf Querdenken-Veranstaltungen. Das ist problematisch, weil Sprache Bilder formt. Die Bilder, denen sich hier bedient wird, sind grausame Bilder von der Ermordung von Millionen von Menschen, die vollkommen grundlos brutalst von einem faschistischen Regime vernichtet wurden. All diese Anspielungen und Vergleiche mit einer Diktatur werden also gemacht, während man selbst in einer Demokratie lebt, in der Gewaltenteilung herrscht und man sogar während einer Pandemie unter Polizeischutz demonstrieren kann und darf, es also keinerlei Ähnlichkeiten mit dem NS-Regime gibt. Wieso also die Vergleiche?
Die Verunsicherung, die Angst, etwas ausgesetzt zu sein, das niemand kontrollieren kann, ist nicht ungewöhnlich zu Zeiten einer Pandemie. Nicht nur Querdenker:innen haben Sorgen und Ängste, nicht nur Querdenker:innen sehnen sich wieder zurück in ein Leben ohne Maske mit engen sozialen Kontakten. Aber gerade die Tatsache, dass wir sozusagen kollektiv „Opfer der Pandemie“ sind ist auch ein wesentlicher Punkt, weshalb die Bewegung auch in zunächst nicht antisemitischen oder radikalen Kreisen Einzug gewinnt. Diese Selbstidentifkation als Opfer der Umstände kann der erste Berührungspunkt mit Querdenken sein. Gleichzeitig bietet die Bewegung vermeintliche Antworten auf Fragen, die man sich zuvor vielleicht gar nicht gestellt hat. Denn dort, wo ein Opfernarrativ erzählt wird, da gibt es auch Täter:innen.
„Wir sind die neuen Juden!“ oder auch: „Die Zionisten sind schuld!
Rothschild. Soros. Die Finanzeliten. Lügenpresse. Big Pharma. Oder auch direkt, laut Attila Hildmann: die Zionisten. Codes für vermeintliche Täter:innen findet man auf Querdenken-Veranstaltungen genug. Abstrakte Größen, die unnahbar scheinen. Wer sind diese Zionisten? Spätestens, wirklich allerspätestens hier muss klar sein: Was auf Querdenken-Demonstrationen verbreitet wird, ist Antisemitismus. Und das auch nicht mehr subtil, sondern offenkundig und toleriert von der Gesellschaft.
Querdenken bedient sich jahrhundertealter antijüdischer und antisemitischer Stereotype und adaptiert diese. Vom geldgierigen Juden, der die Medien kontrolliert, die Coronaimpfung in die Welt setzt, um die Menschen zu vergiften (ganz nach dem Brunnenvergiftungsmotiv) und die Regierungen dazu bringt, Menschen diese große „Corona-Lüge“ zu verkaufen, um sich so an ihnen für die grausame Geschichte der Verfolgung zur NS-Zeit zu rächen. Antisemitische Narrative sind tief im deutschsprachigen Raum verwurzelt. So tief, dass heute noch zwischen 20 und 24% der Bevölkerung in Deutschland glauben, dass Juden zu viel Macht in der Poltik, Wirtschaft, Finanzwelt und Medienlandschaft haben und sogar glauben, dass Jüdinnen und Juden sich für etwas Besseres hielten. Zudem denken 41% der Deutschen, Jüdinnen und Juden wären Israel gegenüber treuer als Deutschland, das entspricht auch dem Prozentsatz der Bevölkerung, der denkt, Jüdinnen und Juden sprächen zu häufig über die Shoa (vgl. Brumlik, 2020, S. 4f.). Gerade deshalb funktionieren subtile antisemitische Codes sehr gut, denn sie müssen nicht neu erlernt werden. Sie waren nie weg, sondern haben sich nur weiterentwickelt. Querdenken macht sich diese Muster zu nutze und instrumentalisiert die Shoa, indem sie ihre heutige Situation mit der der NS-Zeit gleichsetzen und mit den dadurch hergestellten emotionalen Konnotationen Zuspruch gewinnen. Spricht man nun aber selbst als Jüdin oder Jude über die grausamen Ermordungen, wird einem Schuldkult vorgeworfen, also bewusstes Hervorrufen von Schuldgefühlen aufgrund der Geschichte. Betrachtet man die Menge an Menschen, die antisemitische Narrative verinnerlicht haben, dann überrascht es nicht, dass diese Schuldumkehr erfolgreich funktioniert, auf dessen Basis sich neue Feindbilder bauen lassen. „Die Zionisten“, Israel, „deutschlanduntreue“ Jüdinnen und Juden, die zu viel über die Shoa reden, um einem selbst Schuldgefühle einzuflößen. Sie seien doch diejenigen -– so glaubt ein nicht geringer Prozentsatz der Deutschen – die Macht in Form von Geld, Einfluss auf die Politik und Medien wie auch auf die Pharmabranche haben. Es ist für Querdenker:innen also naheliegend, sich nicht nur selbst zu viktimisieren, sondern gleichzeitig Schuldumkehr zu betreiben und zu behaupten, Jüdinnen und Juden, unter dem Code der „Zionisten“, wollen mit der Coronapandemie anderen schaden. Das Motiv? Rache.
Auf der Suche nach einem neuen, nicht greifbaren, elitären Feindbild kommt auch die Nähe von Querdenken zu Qanon, die nicht nur symbolisch, sondern auch ideologisch verankert ist, hervor. Gegen Jüdinnen und Juden in Deutschland zu hetzen, das ist – zum Glück – auf legaler Ebene schwierig. Das führt aber unweigerlich dazu, Zionistinnen und Zionisten, also jene Leute, die die Existenz des einzigen jüdischen Staates Israel befürworten und unterstützen, als neues Vehikel für ihren Hass zu legitimieren. Unter der Schätzung, dass 95% der Jüdinnen und Juden weltweit Zionist:innen sind wird ebenso klar erkennbar, dass es sich wieder nur um ein Codewort handelt, das den eigenen Antisemitismus kaschieren soll. Und nicht nur das: Unter dem kollektiven Hass auf Zionismus finden Gruppen zusammen, die sonst nie zusammenfinden würden. Wenn eine von Rechtsradikalen organisierte Free Palestine-Demonstration vor einer Synagoge in Deutschland, wo deutsche Jüdinnen und Juden beten, nicht genehmigt wird, dann wird das kollektive antisemitische Motiv unter dem Deckmantel des Antizionismus klar erkennbar. Dieses gemeinsame Narrativ der bösen Zionist:innen, das für viele zunächst gar nicht greifbar ist, funktioniert. Es funktioniert, weil es verharmlost werden kann, schließlich hat ja niemand explizit von „den Juden“ gesprochen. Es funktioniet, weil es abstrakt erscheint und weil Zionismus „ein umstrittenes Thema ist“, weil Zionismus aber eigentlich zunächst ein Begriff, ist, der den meisten Menschen im deutschsprachigen Raum gar nichts sagt und es schwer ist, gegen einen unbekannten Begriff zu argumentieren. Es funktioniert nicht zuletzt aber auch, weil Antisemitismus schlichtweg, selbst wenn er offen praktiziert wird, in der Mehrheitsgesellschaft toleriert wird.
Demonstrieren für die Freiheit
Tatsache ist: Es gibt legitime Punkte, die man am Pandemiemanagement kritisieren kann und muss. Das ist aus rein medizinischer, ethischer und juristischer Perspektive nicht nur möglich, sondern auch notwendig, um sicherstellen zu können, den effektivsten Schutz für die Gesellschaft zu gewährleisten. Gleiches gilt für Kritik an der Regierung, wie die Opposition beispielsweise veranschaulicht. Diese gerechtfertigte Kritik kommt aber ohne antisemitische Verschwörungsmythen, die sich häufig als antizionistisch kaschieren, aus.
Auf Coronademonstrationen geht es nicht darum, legitime und notwendige medizinische und juristische Fragen zu stellen und Kritikpunkte aufzuwerfen. Es geht darum, die Demokratie in Frage zu stellen und zu überwinden. Ein demokratisches System umzustürzen, das von Querdenker:innen als Diktatur betrachtet wird, weil das eigene Narrativ der jüdischen/zionistischen Weltverschwörung bereits so verinnerlicht ist, dass man gar nicht mehr wahrnehmen kann, dass Gewaltenteilung existiert, Wahlen nicht gefälscht werden, Menschen frei demonstrieren dürfen (auch während einer Pandemie) und, Baruch HaShem, niemand ermordet wird, weil wir in einer Demokratie und nicht einer Diktatur leben.
Geschichtsrevisionistische und -relativierende Aussagen befördern die eigne Viktimisierung und verharmlosen die Shoa und damit den brutalen Mord and sechs Millionen Jüdinnen und Juden. Zugleich schaffen diese Aussagen Implikationen und Bilder, die dazu führen, sich selbst in heutiger Zeit als Opfer, zunächst der Pandemie und schließlich einer vermeintlichen Diktatur zu sehen. Diese Diktatur verfolgt Ziele, die den Bürger:innen nicht bewusst sein können, die sie also selbst aufdecken müssen. So entwickelt sich das Verschwörungsnarrativ der zionistischen Eliten, die im Geheimen von Israel aus, aber auch in der Diaspora agieren, das Virus in die Welt setzen, die Medien, Finanzen, Pharma und die Regierung kontrollieren und so als Weltmacht die Rache an der deutschen Bevölkerung üben. Es beginnt also mit zunächst unscheinbaren Codes, die man vielleicht als Laie gar nicht als antisemitisch kategorisieren würde. Daraus entwickelt sich aber schnell ein neues Feindbild, in dem die „Deutschen“ die Opfer und Jüdinnen und Juden die Täter:innen sind.
Umso wichtiger ist es, nicht nur von „Covidioten“ zu sprechen und ihren gelebten Antisemitismus müde zu belächeln und dadurch zu verharmlosen. Eine Verharmlosung bietet Platz in der Gesellschaft. Den gibt es aber nicht für Antisemitismus. Geschichtsrevisionismus und antisemitische Verschwörungsmythen, so absurd sie klingen, müssen ernst genommen, eingeordnet, diskutiert und widerlegt werden. Wenn „nie wieder“ auch wirklich „nie wieder“ bedeuten soll, dann muss es Aufgabe der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft sein, nicht nur Jüdinnen und Juden zuzuhören, sondern auch sich selbst klar gegen alle Formen des Antisemitismus zu positionieren.
Zahlen zu antisemitischen Einstellungen in Deutschland:
Brumlik, M. (2020). Antisemitismus. 100 Seiten. Bonn: Reclam.
Über die Autorin
Julia Stallinger, BEd studiert derzeit im Master Jüdische Kulturgeschichte an der Universität Salzburg. Am Zentrum für Jüdische Kulturgeschichte der Universität ist sie außerdem als Studienassistentin tätig und moderiert die Radiosendung Maschehu – Mischehu, die auch als Podcast verfügbar ist. Während das Ziel der Sendung ist, innerjüdische Diversität, die im Mainstream keinen Raum findet, durch eine Vielfalt an jüdischen Themen und Gästen sichtbar zu machen und zu diskutieren, engagiert sie sich thematisch außerhalb der Sendung vorrangig zum Thema Antisemitismus und als Mitglied der Österreichisch-Israelischen Gesellschaft spezifisch zur Schnittstelle zwischen antizionistischen und antisemitischen Motiven in radikalen Gruppierungen.
Die ersten drei Teile habt ihr schon gesehen. Jetzt ist nach zwei Wochen Pause der vierte Teil fertig und ich hoffe, ihr seid genau so zufrieden damit wie ich. Noch mindestens ein weiterer Teil ist geplant.
In diesem Teil beantworten wir die Frage nach der jüdischen Küche ganz allgemein. Wollt ihr noch mehr wissen über Essen, Koscherregeln, Traditionelle Gerichte und andere Dinge zur Ernährung der Juden? Ich nenne uns nicht umsonst manchmal „die kulinarische Religion“. Schreibt es hier in die Kommentare oder unter dem Video oder einfach auf Twitter unter den Hashtag #FragEinenJuden!