Die Sicherheitslage in Israel ist noch Monate vielleicht sogar Jahre komplett ungewiss. Vor allem im Süden und im Norden des Landes. Familien aus beiden Regionen fragen sich: „Können wir wieder zurück?“

Israel kämpft zur Zeit an zwei Fronten. An zwei Fronten ist unser Land von Terrororganisation bedroht, von zwei Fronten sind Tausende Familien evakuiert worden, an zwei Fronten kämpfen täglich Tausende Soldat*innen und Reservist*innen und verteidigen das Land und ihre Bevölkerung, die jüdische wie die muslimische, drusische, christliche und alle anderen Israelis auch. Doch die Lage scheint nach über 100 Tagen Krieg ungewisser als noch am Anfang des Krieges. Viele Expert*innen gingen davon aus, dass innerhalb weniger Monate die Hamas besiegt sein und dass die Hizbollah aus dem Libanon nicht angreifen wird. Beide Annahmen scheinen sich leider nicht zu bewahrheiten.
Dennoch ist das Vertrauen der israelischen Bevölkerung darin, dass beide Terrororganisationen besiegen werden groß. Doch die aus dem Süden und dem Norden evakuierten Familien fragen sich: „Können wir es mit unserem Gewissen vereinbaren, unsere Kinder dort großzuziehen, wo möglicherweise immer noch immer aktive Terrortunnel neben oder unter unserem Kibbutz sind?“
Letzte Woche war ich viel unterwegs. Ich war sowohl im Süden, im Kibbutz Kissufim direkt an der Grenze zum Gazastreifen, als auch im Norden, in einem Kibbutz, wohin meine Kindheitsfreundin aus dem Kibbutz Misgav Am evakuiert wurde.
Kibbutz Kissufim liegt direkt an der Grenze zum Gazastreifen und ist wie so viele Kibbutzim ein kleines Paradies. Zumindest lässt sich erahnen, dass es mal eines war. Es liegt etwa 7 Kilometer südwestlich von Re’im, wo das Nova Music Festival stattfand, auf dem die Hamas Terroristen 364 junge Menschen abgeschlachtet und über 40 Geiseln nach Gaza verschleppt haben. Im Kibbutz Kissufim lebten vor dem „Schwarzen Schabbat“, wie der 7.10.23 in Israel genannt wird etwa 280 Menschen. 18 von ihnen wurden auf brutalste Art und Weise von der Hamas ermordet und eine Person ist noch immer als Geisel in Gaza. Ich betrat drei der Häuser, die die Hamas Terroristen zerstört haben. Ein Haus war fast vollständig ausgebrannt und man kam nur schwer herein. Dort lebte eine kleine Familie: Mutter, Vater und eine Tochter im Teenager-Alter. Während etwa 60 Terroristen aus zwei Richtungen den Kibbutz stürmten und zeitgleich hunderte Raketen aus Gaza flogen, hat sich die Familie in ihrem Bunkerzimmer versteckt. Aber die Terroristen setzen das Haus in Brand und die Familie wurde lebendig verbrannt in diesem Bunkerzimmer, das zur Falle wurde. Als ich es mit meiner Handytaschenlampe den Weg beleuchtend betrat, versuchte ich nicht zu atmen. Ich hatte Angst, dass mich der Geruch für immer verfolgen wird. Es stand dort noch ein halbverbranntes Bett und von der Decke hing etwas, das wie eine grotesk verkohlte Girlande aus geschmolzenem Plastik aussah.

Der Gang durch den Kibbutz und durch diese Häuser hat sich angefühlt, als liege ich durch ein dystopisches Filmset. Wahrscheinlich ich habe ich mir das selbs eingeredet, um nicht zusammenzubrechen.
Shmuel, ein etwa 30-jähriger Mann, führte mich durch den Kibbutz, in dem er geboren und aufgewachsen ist. Seine 90-Jährige Großmutter wurde dort von einem Terroristen in ihrem Haus erschossen. Und dennoch hilft er dabei, den Kibbutz wieder aufzubauen und will dorthin zurückkehren.
Als ich fragte, ob auch alle anderen Bewohner zurückkommen wollen, sagte er: „Naja, im Moment wollen es nicht viele. Damit die Menschen zurückkehren, müssen zwei Dinge passieren: Wir müssen die Hamas zerstören und dafür sorgen, dass die Menschen hier die Gewissheit haben, dass sie hier sicher sind. Zum anderen müssen wir den Kibbutz noch schöner machen als er zuvor war. Deshalb sammeln wir gerade auch Spenden. Ein Paar Menschen aus dem Kibbutz sind wieder hier, um schon mal das Gras neu zu pflanzen. Wenn es grün und schön ist, dann denke ich, dass die Kibbutz Bewohner sich wohler dabei fühlen zurückzukommen.“

Am nächsten Tag fuhr ich dann in den Norden in den Kibbutz Ein Harod, einer der ältesten Kibbuze Israels mit der Sicht auf das Gilboa Gebirge. Ein atemberaubende Aussicht bietet dieser sehr schöner Kibbutz. Dort lebt zurzeit meine Kindheitsfreundin Anna. Seit wir 4 Jahre alt sind wir befreundet und waren auch in der jüdischen Grundschule in der Ukraine in derselben Klasse. Dort trennten sich erst mal unsere Wege: Ich ging als Kontingentflüchtling nach Deutschland, Anna nach Israel. Sie lebte die letzten 10 Jahre im Kibbutz Misgav Am direkt an der Grenze zum Libanon.
Ich haben sie dort mit meinen Kindern und meinem Mann mehrmals besucht. Es ist ein Kibbutz, in dem vielen jungen Familien lebten, die nun alle evakuiert wurden, weil seit dem 8.10. ohne Unterbrechung mit der Hizbollah gekämpft wird.
Als Anna, ihr Mann und ihre beiden kleinen Töchter am 7.10 gegen 6 Uhr Morgens aufwachten und verstanden, was im Süden passiert ist, sagte ihr Mann bereits um 9 Uhr morgens zu ihr: „Nimm ein paar Sachen und die Mädchen und fahr bitte weg. Es wird gefährlich werden hier.“ Ihr Mann hat bereits in zwei Kriegen gekämpft und ist Sicherheitsverantwortlicher des Kibbutzes. Noch bevor die Aufforderung zur Evakuierung kam, ahnte er, dass der Kibbutz zu einer Kampfzone mit der Hizbollah wird. Und genau so war es auch.

Besuch in Misgav Am in 2017
Sie und der gesamte Kibbutz verbrachten einige Wochen in einem Hotel am See Genezareth. Anna entschied sich dann, ein neues Zuhause zu suchen, ob übergangsweise oder nicht, ist ihr noch nicht klar. „Wenn gewusst hätte, dass der Krieg in 1-2 Monaten vorbei ist, wäre ich noch im Hotel geblieben. Aber die Mädchen müssen zur Schule und in den Kindergarten, das ist doch kein Zustand!“, sagte sie mir neulich am Telefon.
Sie fand also ein freies kleines Häuschen in Ein Harod, wo es auch noch Plätze in der Schule und Kindergarten gab. Als ich sie dort besuchte, umarmten wir uns ganz fest und still. Ich war so froh, dass sie wenigsten ein bisschen Normalität gefunden hat, auch wenn ich weiss, wie schwer sie es hat. Völlig erschöpft und mit täglicher Sorge um ihren Mann versucht sie sich ein Leben im Kibbutz aufzubauen.
„Was erzählt dein Mann aus dem Norden?“, frage ich. „Nicht viel, er darf mir nichts sagen und genau das macht mir Sorgen.“, seufzte sie.

Kibbutz, in dem Anna jetzt lebt
Wir setzen uns mit unseren Bechern Kaffe auf ihre Terrasse und ich fragte, ob die Familien von Misgav Am zurückkehren wollen. Ihre Antwort hat mich erschüttert. „Die meisten haben Angst zurückzukommen. Wir wissen bisher nicht, ob die Hizbollah unter unserem Kibbutz oder in der Nähe Tunnel hat. Kann ich oder meine Freunde aus Misgav Am verantworten, unsere Kinder dort großzuziehen mit dieser Ungewissheit. Ich glaube nicht, dass viele zurückgehen. Zumindest solange die Hizbollah dort ist und der Kampf mit ihr wird länger und schwerer als mit der Hamas“.
Während wir durch Ein Harod spazierten und uns dann im gemeinsamen Essensraum des Kibbutz (Cheder Ochel) Mittagessen holten, sprachen wir auch über die Lage in Europa und der Welt. „Eine Freundin aus Misgav Am wollte vor dem Krieg für ein Paar Jahre in die USA zurück. Jetzt will sie auf keinen Fall dort hin. Der Antisemitismus weltweit ist unerträglich geworden.“ Ich stimmte zu: „Mir geht es auch so, dass ich mich hier in Israel sicherer fühle als in Deutschland. Trotz Krieg.“
Aber wie lange werden wir uns noch sicher fühlen? Wird die Hizbollah einen großen Angriff starten? Wie viele Opfer wird er bringen? Was passiert mit den jüdischen Gemeinden außerhalb von Israel? Werden die Familien das Trauma überwinden können und in die Kibbutzim im Süden und im Norden zurückkehren?
Diese Fragen surren den ganzen Tag, jeden Tag seit dem Schwarzen Schabbat nicht nur in meinem Kopf herum sondern in sehr vielen Köpfen der Menschen hier in Israel. Die Frage über wie sie ihre eigene Traumabewältigung angehen sollen, haben die meisten noch nicht mal angefangen sich zu stellen.
Eine kürzere Version dieses Textes ist am 8.2.24 im Magazin Jungle World erschienen. Klickt auf das Bild unten, dann kommt ihr zum Artikel.







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