Als ich in der Schule war, in der Mittelstufe, da haben wir ausführlich alles über das Dritte Reich gelernt. Man kann nicht sagen, dass unsere Lehrer (bis auf einen oder zwei) irgend ein gutes Blatt an dieser Epoche gelassen hätten. In unseren Schulbüchern waren Wahlplakate der NSDAP abgedruckt, anhand derer uns die Rattenfängermethoden der Nazis erklärt wurden. Außerdem wurde eine HauptTeilschuld an der Misere dem Versailler Frieden, der die Deutschen so gedemütigt hatte und der desolaten wirtschaftliche Lage angehängt.
Außerhalb der Schule musste ich lernen, dass es eigentlich gar keine Nazis gab. Nach 45 waren die alle irgendwie sofort verschwunden und nur Nix-Gewusst-Haber und heimliche Untergrundkämpfer, die eigenhändig todesmutig Juden gerettet haben, waren noch da. Die Nazis waren ein Phänomen, dass irgendwie von außen gekommen sein muss und dann wieder verschwunden ist. Nicht umsonst glauben sogenannten „Truther“, dass die Nazis bis heute eine Militärbasis auf der Rückseite des Mondes betreiben. Auf dem Mond herrschen tagsüber Temperaturen von bis zu +127°C und in der Nacht bis zu -173°C, an den Polen sogar bis zu -247°C. Das passt doch gut: Die Nazis sind hirnverbrannte Arschlöcher mit eiskalter Seele.
Zwei Erklärungen für das Dritte Reich, die mir genügen mussten. Ein Großteil meiner Familie wurde also von Aliens, die von Versailler Wirtschaftsflüchtlingen angestiftet wurden, in Lagern industriell umgebracht.
In Chemnitz und anderen Teilen Sachsens marschieren die stolzen Enkel der HJ und BDM Hurrapatrioten von damals wieder mit dumpfer Gewalt durch die Straßen. Derweil geht es Deutschland jedoch wirtschaftlich so gut wie noch nie. Das „Wir schaffen das“ der Kanzlerin scheint zu stimmen! Gedemütigt wurden die Deutschen kürzlich zwar beim Feldzug WM-Ausflug in Russland (schon wieder), aber daran war ja der Ausländer schuld. Wo ist also das Problem?
Es bleibt also nur ein Schluss: Die Aliens sind zurück! Dieses Mal in blau. Baut also endlich eine Bundeswehr mit Weltraum-Abwehr-Einheit! Die Trumpsche „Space Force“ wird nicht vor 2020 fertig und die nächste Bundestagswahl ist schon ein Jahr später! Ob die Amis den Deutschen wieder aus der Patsche helfen, bleibt fraglich!
Am Schabbat in der Synagoge liegt oft ein Heft aus mit dem Titel „Torah Tidbits„. Es ist eine Sammlung von Texten verschiedener Rabbiner und anderen Autoren und Autorinnen, die sich mit dem Torah-Wochenabschnitt beschäftigen. Diese Woche war es der Abschnitt „Korach“.
Wenn ich das Heft in die Hand bekomme, dann lese ich immer als erstes und oft auch als einziges den Text von Rabbi Lord Jonathan Sacks. Er ist ein scharfer Denker, schreibt eindringlich und verständlich und schafft es jede Woche, das Thema des Wochenabschnitts mit aktuellen Ereignissen oder weltlichen Dingen in Einklang zu bringen. Er wurde ganz zu Recht zum Lord ernannt und trägt diesen Titel an zweiter Stelle nach dem „Rabbi“. Auch das ist richtig.
Diese Woche geht es um die Geschichte Korachs. Kurz zusammengefasst passiert folgendes:
Die Spione, die ins Gelobte Land Israel geschickt werden, kommen mit schlechten Nachrichten zurück: Das Land sei bewohnt von Riesen und uneinnehmbar. Das Versprechen G’ttes, dieses Land den Israeliten zu geben, scheint nicht einlösbar. Als Reaktion auf die Spione verdonnert G’tt die Israeliten zu 40 Jahren Wanderschaft durch die Wüste und bis auf wenige Ausnahmen darf niemand das Gelobte Land sehen. Erst die nächste Generation wird dort leben können.
Die Leute sind sauer. Der Auszug aus Ägypten mutet wie ein Schuss ins eigene Knie an. Korach und seine Gefolgsleute klagen und greifen Moses direkt an. Warum hat er seinen Bruder Aaron zum Hohepriester gemacht und überhaupt die wichtigsten Positionen an seine Familie verteilt? Das ist doch Vetternwirtschaft par excellence!
Moses wehrt sich und verweist auf den Willen G’ttes. Er erbittet ein Wunder, das auch geschieht: Korach und seine Leute werden vom Erdboden verschluckt. Aber hat Moses gewonnen?
Rabbi Lord Sacks hat eine interessante Sichtweise darauf. Er nennt Korach den „Ersten Populisten“ und beschreibt sehr genau, was Populismus ist und warum Moses falsch reagiert hat. Korach vs. Moses war nicht Schwarz vs. Weiss. Und die Populisten heute haben mit ihren Vorwürfen auch nicht nur unrecht. Wie man damit umgeht, beziehungsweise, wie man damit nicht umgeht, das kann man von Rabbi Sacks und der Torah lernen. Aber lest selbst:
The story of Korach has much to teach us about one of the most disturbing phenomena of our time: the rise of populism in contemporary politics. Korach was a populist, one of the first in recorded history – and populism has re-emerged in the West, as it did in the 1930s, posing great danger to the future of freedom.
Populism is the politics of anger. It makes its appearance when there is widespread discontent with political leaders, when people feel that heads of institutions are working in their own interest rather than that of the general public, when there is a widespread loss of trust and a breakdown of the sense of the common good.
People come to feel that the distribution of rewards is unfair: a few gain disproportionately and the many stay static or lose. There is also a feeling that the country they once knew has been taken away from them, whether because of the undermining of traditional values or because of large scale immigration.
Meine Frau Jenny und ich hatten heute Morgen einen Streit. Es ging um Integration und sie haute mir Geschichten von gescheiterter solcher in den USA um die Ohren, wo es eine Gemeinde religiöse Juden gibt, in der kaum einer Englisch spricht und die sich komplett abgeschottet haben von der Umwelt.
Das hat (laut meiner Frau, ich habe die Geschichte nicht recherchiert) schreckliche Auswirkungen auf Frauenrechte und das sexuelle Selbstbestimmungsrecht der Menschen dort. Sie erzählte den Fall eines Transgendermannes, der von seiner Familie und Gemeinschaft verstossen wurde.
Ihr Standpunkt ist: Die müssen verdammt noch mal Englisch lernen! Auch in Deutschland wird von vielen Seiten verlangt, dass Neueinwanderer Deutsch lernen müssen.
Ich sehe das anders. Natürlich ist es unglaublich praktisch, die Landessprache zu sprechen. Ich bin Neueinwanderer in Israel und gebe mir redlich Mühe, Hebräisch zu lernen. Ich kenne aber auch Einwanderer, die es auch nach 20 Jahren nicht über den Kassiervorgang auf Hebräisch an der Supermarktkasse hinausgebracht haben. Auch die sind Teil der Gesellschaft.
In den USA gibt es Gebiete, wo Englisch bestenfalls Zweitsprache ist. Das ist etwa in Chinatown so oder in den Hispanischen Gebieten im Süden der USA. Sind diese Menschen nicht integriert? Sind sie keine Amerikaner?
In Deutschland wiederum kann man perfekt Deutsch sprechen und ist dennoch nicht automatisch akzeptiert als Deutscher. Seinen „Migrationshintergrund“ wird man nicht mal dann los, wenn man ihn nur augenscheinlich hat, etwa weil die Hautfarbe „zu dunkel“ ist. Meine Frau selbst ist ein starkes Beispiel dafür. Sie wurde trotz perfektem Deutsch, ähnlicher Kultur und weisser Haut niemals als 100% Deutsch akzeptiert. Sie war und blieb die Jüdin aus der Ukraine.
Integration ist schön und durchaus erstrebenswert. Sie funktioniert aber nur, wenn beide Seiten sie wollen. Die meisten Deutschen aber verlangen die Integration nur von der anderen Seite, daher funktioniert sie auch so schlecht in Deutschland.
Ich glaube, wer in einem Land leben will, in das er eingewandert ist, muss genau zwei Dinge tun: Steuern zahlen und die Gesetze respektieren. Man kann zwar gerne mehr tun, aber auf keinen Fall weniger. Wer das nicht macht, der ist nicht funktionaler Teil der Gesellschaft: Etwa Salafisten, Nazis, Reichsbürger, Linksautonome, um nur einige davon zu nennen.
Aber Deutsch lernen? Gibt es denn keine Übersetzungen der Gesetzestexte? Vielleicht sollte man damit mal anfangen.
Der Verdächtige, auf den die Beschreibung aus dem letzten Beitrag passt, die auch von Tagesschau und Tagesthemen verbreitet wurde, war wohl doch nicht der Täter. Der Pakistaner wurde inzwischen auch wieder auf freien Fuss gesetzt. Das erinnert uns daran, dass bis eine Information gesichert ist, manchmal viel Zeit ins Land gehen kann, selbst bei auf den ersten Blick eindeutigen Indizien. Doch wer daraus schliesst, man darf nichts berichten und muss den Stand der Ermittlungen verschweigen, bis es gesicherte Erkenntnisse gibt, lebt in der falschen Epoche. Wenn in Zeiten von Social Media schon so viele andere Quellen, ob nun vertrauenswürdig oder nicht, Informationen verbreiten, dann wird das Schweigen für ein Leitmedium zu einer Aussage. Die übermässige Vorsicht der Tagesschau hat auch sie nicht davor bewahrt, einen falschen Verdächtigen zu präsentieren. Aber das Gute an der Reichweite solcher Medien ist: Sie können effektiv richtigstellen, wenn sie falsch berichtet haben. Kleinere Medien werden mit ihren einzelnen Nachrichten schnipselweise in Online-Posts auf Facebook, Twitter und Co. verteilt und bleiben ohne Chance, alle Leser einer Nachricht auch mit einer Richtigstellung zu erreichen.
Es dauert wohl noch ein wenig, bis diese Erkenntnis bei der Tagesschau angekommen ist.
Mein Artikel in der WELT von gestern hatte keinen prominenten Platz auf der WELT Startseite und hat trotzdem bis heute schon fast Viertausend Facebook Interaktionen provoziert. Das ist echt eine ganze Menge!
Es liegt in der Natur der Sache, dass manche davon auch aus der rechten Ecke stammen. Darunter sind einige AfD-Seiten und die Nazi-Facebook-Gruppe „Widerstand Dresden„, die ihn geteilt haben.
Ich habe mir die Kommentare in ein paar AfD-Landesgruppen Facebook Seiten zu meinem Artikel angetan. Dazu kann ich nur sagen: Wer hat euch denn ins Gehirn geschissen???
Hier eine klare Message an Euch: Ihr Scheisstypen seid einem Trojanischem Pferd aufgesessen. Ich habe den Text geschrieben, weil ich Eure Unterscheidung zwischen „uns“ und „die“ zum Kotzen finde. Ich habe den Pragmatismus des Profiling hervorgehoben und die positiven Effekte auf das Zusammenleben zwischen etwa Muslimen und Nichtmuslimen. Ich rede das Wort für ein gutes Zusammenleben unter der Bedrohungslage von islamistischem Terror. Ich will mit Muslimen als Mitmenschen in Frieden leben, ihr wollt die Muslime loswerden. Wenn eine von euch Knallchargen sich auf mich berufen sollte, wenn es um die Einführung ethnisches Profilings geht, dann werde ich der erste sein, der lautstark dagegen sein wird!
So. Genug Fäkalausdrücke für dieses Jahr. Das Kontingent ist aufgebraucht. Und überrascht bin ich ehrlich gesagt auch nicht darüber. Aber wer Angst hat, Applaus von der falschen Seite zu bekommen, sollte einfach die Klappe halten. Das weiss inzwischen sogar die Wagenknecht von der PDS. Ich will nicht, dass ethnisches Profiling von den Falschen aus den falschen Gründen gemacht wird, sondern aus den richtigen Gründen, wenn es unausweichlich wird. Daher habe ich mich auch gefreut über die Kommentare unter den Artikel, die warnten vor dem Profiling mit Hinweis auf die jüngere Deutsche Geschichte. Solche Massnahmen dürfen eben nicht unreflektiert und fahrlässig eingeführt werden und müssen diskutiert werden.
Einen Fäkalausdruck habe ich mir noch aufgehoben für die „Widerstand Dresden“ Nazis:
Ach nein, mein Fehler, die Überschrift, die SPON für diesen Anschlag gewählt hat ist: „Mann attackiert Zugreisende mit Axt – vier Schwerverletzte“. Der Jugendliche ist hier ein vollschuldfähiger Mann und sein selbstverschuldeter, wenn auch fremdverursachter Tod wird erst im dritten Satz des Artikels erwähnt. Dieser Terroranschlag fand nicht in Israel sondern in Würzburg statt, daher wurde auf eine Täter-Opfer-Umkehr in der Überschrift verzichtet. Nur Renate Künast ist darüber offenbar traurig (und erntet für ihren Tweet einen wohlverdienten Shitstorm).
@SPON: Gut gemacht! Weiter so! Das nächste Mal auch für Anschläge in Israel (von denen man leider ausgehen muss, dass sie wieder passieren werden).
ich, als Kind in der Ukraine. Bin hier etwa 7-8 Jahre alt
Eingang zum umfunktionierten, ehemaligen Bordell befindet sich neben einer Kiezkneipe mit provokantem Bild am Eingang.
Hamburg, Reeperbahn, das wohl bekannteste Rotlichtmilieu nach Amsterdam. Dort wohnt ein Flüchtlingsmädchen in einem Flüchtlingsheim. Sie und ihre Mutter teilen sich ein winziges Zimmer, in dem zwei Betten, ein kleiner Schrank und ein Tisch stehen. Wenn das Mädchen dort ihre Deutschhausaufgaben macht, starrt sie auf die belebte Straße, wo auf der gegenüberliegenden Seite vom Heim jeden Abend die Prostituierten aufgereiht auf ihre Freier warten. Auch ihre Großmutter und Urgroßmutter wohnen zusammen in so einem kleinen Zimmer.
Flüchtlinge aus den unterschiedlichsten Ländern wohnen hier. Die meisten sind jüdische Kontingentflüchtlinge aus der ehemaligen Sowjetunion, die anderen sind Araber und Afrikaner. Jeden Tag nach der Schule hilft das Mädchen ihrer Urgroßmutter in der Gemeinschaftsküche. Dort gibt es nur wenige Kochfelder, dafür aber jede Menge Ratten und Ungeziefer. Auch im Zimmer laufen dutzende Kakerlaken an der Wand entlang. Ihre Mutter lässt nachts sogar das Licht an und sitzt am Bett des kleinen Mädchens Wache, damit keine zu ihr ins Bett kommen.
Der Eingang zum umfunktionierten, ehemaligen Bordell befindet sich neben einer Kiezkneipe mit provokantem Bild am Eingang. Als ein Junge aus dem Bekanntenkreis ihrer Eltern sie mal ins Kino einlädt, wartet sie auf ihn vor dem Eingang in ihr Wohnheim. Alle paar Minuten laufen Männer in ihren 50ern und älter an ihr vorbei in die Kneipe. Begreift das kleine Mädchen, was um sie herum passiert auf der Reeperbahn? Kaum. Sie ist elf Jahre alt. Vor einem halben Jahr kam sie nach Deutschland. Vor wenigen Wochen erst nach Hamburg.
Ein Mann bleibt neben ihr stehen, greift in die Tasche und streckt ihr einen 20 D-Mark Schein hin. Reflexartig will sie danach greifen, aber irgendetwas hält sie instinktiv davon ab. Sie kann kein Deutsch, versteht nicht, was der Mann sagt und steht mehrere Sekunden nur da und starrt ihn ratlos an. Plötzlich begreift sie, was dieser Mann im Alter ihres Opas von ihr will. Sie schüttelt schnell den Kopf und sagt „nein“. Der Mann ist hartnäckig und fragt: „nein?“ Sie bestätigt: „nein“ und geht schnell zurück ins Wohnheim.
Und so schlimm es auch manchmal war, meine Mutter, meine inzwischen verstorbenen Großmütter und ich waren und sind immer dankbar dafür, dass wir kommen konnten.
Wer war dieses Mädchen? War das wirklich ich? Wenn ich mich heute an die Geschichten zurückerinnere, die ich als Kind und Teenager während meiner Integration in Deutschland erlebt habe, kommt es mir oft vor, als wäre das irgendeine andere Person, ein anderes Flüchtlingsmädchen. Und so schlimm es auch manchmal war, meine Mutter, meine inzwischen verstorbenen Großmütter und ich waren und sind immer dankbar dafür, dass wir kommen konnten.
…wo es nicht mal Deutschunterricht für uns Flüchtlingskinder gab und es auch keinen Lehrer interessierte, dass ich nichts im Schulunterricht verstand oder dass mich die Mitschüler deswegen auslachten.
Im Jahr 1990 geschah das politische Wunder, auf das meine Familie seit mehreren Generationen gewartet hatte: Der Zusammenbruch der Sowjetunion. Während der gesamten Sowjetzeit wurden Juden unterdrückt, diskriminiert, gar verfolgt, weggesperrt und ermordet . Sie durften in vielen Jobs nicht arbeiten, und wenn man irgendwo Arbeit gefunden hatte, konnte man nicht aufsteigen. Die Ausübung der Religion war strengstens verboten und jüdische Vornamen wurden größtenteils in russische geändert.
Man wollte uns unserer Identität berauben. So erklärt sich, dass etwa die Hälfte der sowjetischen Juden auswanderte, sobald der Eiserne Vorhang sich öffnete. Die meisten von ihnen gingen nach Israel, einige in die USA oder nach Deutschland, das 1991 trotz massiven Protesten in der Bevölkerung anfing, Juden als Kontingentflüchtlinge aufzunehmen. Meine Familie entschied sich im Herbst 1995, einen Antrag für die Aufnahme als Flüchtlinge in Deutschland zu stellen. Im September 1996 war es endlich soweit. Wir stiegen in einen Bus und fuhren über 24 lange Stunden nach Deutschland.
Wollte meine Familie weg? Nicht wirklich. Es ist eine unglaubliche psychologische Hürde, zu fliehen, vor allem wenn du nicht weißt, was dich am Ziel erwartet.
Mich erwartete ein halbes Jahr in einer Kleinstadt in Hessen, wo es nicht mal Deutschunterricht für uns Flüchtlingskinder gab und es auch keinen Lehrer interessierte, dass ich nichts im Schulunterricht verstand oder dass mich die Mitschüler deswegen auslachten.
Daher schockierte es mich umso mehr, dass mich meine Mitschüler täglich als Ausländerin, aber eben auch als Jüdin fertig machten.
Sie hänselten mich nicht nur für mein noch nicht perfektes Deutsch. Es kam vor, dass ich in der Pause mit Brotstücken beworfen wurde.
Wir zogen weiter nach Hamburg und dort kam ich endlich in eine Sprachklasse, die ich als Beste von allen meinen Mitschülern abschloss und daher als Eine der Wenigen eine Empfehlung für das Gymnasium bekam. Die einzige Schule, die im neuen Schuljahr für mich Platz hatte, war zugleich das einzige katholische Gymnasium in Hamburg in einer sehr guten Gegend. Ich war überglücklich. Endlich konnte ich lernen, um irgendwann meinen Traum zu erfüllen. Ich wollte studieren, genau wie meine ganze Familie. Am meisten interessierte mich das Fach Geschichte.
Bevor mein erstes Schuljahr in der neuen katholischen Schule los ging, bot mir die Schulleitung an, mich von der Teilnahme am Morgengebet zu befreien, falls ich es nicht möchte. Das fand ich sehr anständig. Ich hatte meine ersten vier Schuljahre in einer jüdischen Schule im Ukrainischen Dnipropetrowsk verbracht, an der uns nach und nach unsere jüdischen Traditionen und unsere Identität wieder gegeben wurde. Und diese Identität war mir unglaublich wichtig, denn meine Generation war die erste, die frei und mit Selbstbewusstsein jüdisch sein durfte. Daher schockierte es mich umso mehr, dass mich meine Mitschüler täglich als Ausländerin, aber eben auch als Jüdin fertig machten.
Sie hänselten mich nicht nur für mein noch nicht perfektes Deutsch. Es kam vor, dass ich in der Pause mit Brotstücken beworfen wurde. Mehrmals ging ich einfach schon mittags vor Schulschluss nach Hause und auf dem Weg zum Bus überkamen mich jedes Mal die Tränen. Ich war zwölf Jahre alt und verstand nicht, warum alle so gemein zu mir waren und warum ich den Lehrern, die mich völlig im Stich ließen, offenbar vollkommen egal war. Nicht nur das, manche Lehrer trugen zum Mobbing auch noch bei. Eine Deutschlehrerin machte mich so fertig, dass selbst meine Mitschüler schockiert waren.
Am Ende des ersten Halbjahres verlangte unsere Englischlehrerin, dass wir das „Vater Unser“ auf Englisch auswendig lernen. Das war wohl das erste Mal, dass ich offen rebellierte. Ich stand auf und sagte, dass ich das christliche Gebet nicht lernen werde. Ich verstand nicht, was es im Englischunterricht verloren hatte. Ich habe mich gewehrt, aber es hat mir nicht geholfen. Im Gegenteil, ich „wurde gegangen“ und musste zum zweiten Halbjahr die Schule wechseln.
Doch meine guten Sprachkenntnisse waren nicht genug, um akzeptiert zu werden. Es reichte auch nicht, dass ich aus der selben Bildungsschicht und einer ähnlichen Kultur stammte wie die meisten meiner Mitschüler…
Deutsch sprach ich zwar noch mit kleinen Fehlern, aber schon ohne hörbaren Akzent. Dafür übte ich so exzessiv, dass ich meine Stimmbänder überstrapazierte und beinahe hätte operiert werden müssen.
Doch meine guten Sprachkenntnisse waren nicht genug, um akzeptiert zu werden. Es reichte auch nicht, dass ich aus der selben Bildungsschicht und einer ähnlichen Kultur stammte wie die meisten meiner Mitschüler aus meinen nachfolgenden Schulen, an denen außer mir nur wenige Ausländerkinder waren. Ich blieb immer die Ausländerin, die Jüdin.
All die Jahre fehlte ich sehr oft in der Schule, weil ich das intensive Mobbing nicht ertrug und daraufhin viel krank war. Als es aufs Abitur zuging, fragte meine Schulleiterin im Gymnasium Eppendorf, ob ich mir sicher sei, dass ich mit meinen schlechten Leistungen tatsächlich studieren möchte. Das war unglaublich verletzend für mich, doch ich schwieg. Noch heute macht es mich traurig und wütend, wie eine Schulleiterin, die sich Pädagogin nennt, nicht die wahren Gründe meines Misserfolgs erkennen konnte. In einer anderen Schule beendete ich dann mein Abitur.
Die meisten der russischsprachigen Kinder von Flüchtlingen oder Aussiedlern lernten in Schulen mit einem sehr hohen Ausländeranteil und ihr Freundeskreis bestand hauptsächlich aus ebenso russischsprachigen Teenagern. Das wollte ich nicht, ich wollte mich integrieren, ich wollte ein Teil dieses Volkes, dieser Gesellschaft sein. Nach und nach hatte ich auch immer mehr deutsche Freunde und mit 15 Jahren hatte ich meinen ersten deutschen Freund. Ich wusste auch, dass ich irgendwann mal einen Deutschen heiraten möchte.
Nur mit sehr viel Mühe und Kraft habe ich es dennoch geschafft und Deutschland wurde mein Zuhause, meine Heimat.
Es war ein harter Start für mich in der neuen Heimat. Meine Integration in die Deutsche Gesellschaft war ein langer, schwieriger Prozess.
Auf jedem Schritt meines Weges bekam ich von meiner Umgebung Steine in den Weg gelegt. Nur mit sehr viel Mühe und Kraft habe ich es dennoch geschafft und Deutschland wurde mein Zuhause, meine Heimat. Heute frage ich mich mit Tränen in den Augen, warum nur haben es mir so viele Mitmenschen so schwer gemacht, anstatt mich zu unterstützen?
Als ich meinen deutschen Pass bekam, war ich 18 Jahre alt und unglaublich stolz. Noch stolzer war ich, als der Beamte in der Ausländerbehörde mit dem Blick auf mein Jahreszeugnis aus dem Gymnasium sagte, ich bräuchte natürlich keinen Deutschtest machen.
Ich habe studiert und lebe heute mit meinem Mann und unseren beiden Söhnen in Israel. Ich habe Deutschland also wieder den Rücken gekehrt. Doch meine Verbindung zu Deutschland ist und bleibt stark. Ich gründete beispielsweise eine Organisation, die sich für Deutsch-Israelische Beziehungen und Frauenrechte einsetzt.
Es ist immer ein dünner Grad zwischen Integration und Assimilation. Ich wollte mich nicht assimilieren, damit hätte ich meine Identität aufgegeben. Ich wollte mich dennoch integrieren und habe trotze großer Widerstände von allen Seiten dafür gekämpft.
Zurzeit gibt es eine neue, große Flüchtlingswelle nach Deutschland und ich hoffe sehr, dass man es den Flüchtlingskindern nicht so schwer macht. Integration muss im Alltag funktionieren, nicht am Bahnhof durch Plakate und nicht durch politische Reden.