
Die palästinensische Haaretz-Journalistin Rajaa Natour schreibt einen Beitrag in der TAZ zum Krieg in Gaza mit dem Titel „Alternative Narrative“ und ich muss sagen: Er ist hochinteressant! Aber nicht etwa wegen der Dinge, die sie schreibt, sondern wegen der Informationen zwischen den Zeilen. Dabei sind einige Aussagen im Text auf den Punkt: Wie etwa, dass die Hamas einer mörderischen islamistischen Ideologie folgt und jeder Tote in Gaza das Fundament ihrer militärischen Strategie ist und diese Verluste zum einzigen Maßstab für den Erfolg des palästinensischen Kampfes gemacht hat. Es tut gut, das auch aus einem palästinensischem Mund so deutlich zu hören.
Laut der im Artikel veröffentlichten Kurzbiographie stammt sie aus Qalansawe in Israel. Diese Kleinstadt liegt wenige Kilometer nördlich meines Wohnortes, etwa 30 Minuten Autofahrt entfernt. Sie ist Israelin und geniesst alle Rechte eines israelischen Staatsbürgers. Sie hat studiert, arbeitet für einen israelischen Arbeitgeber in einem hochklassigen Beruf und sie ist den Bildern nach zu urteilen nicht an religiöse Normen wie das Kopftuch gebunden. Die meisten Araberinnen in Israel, die für israelische Arbeitgeber arbeiten, sind in Berufen ohne höhere Ausbildung. Sie sind Kassiererinnen im Supermarkt, Reinigungspersonal, Pflege und ähnliches. Was ich sagen will: Frau Natour ist in ihren Kreisen privilegiert und emanzipiert. Und ich wünschte, viel mehr Araberinnen in Israel hätten diese Möglichkeiten auf Bildung und Entfaltung.
Vor diesem Hintergrund erscheinen ihre Aussagen in einem besonderen Licht. Fangen wir an mit den ersten Sätzen des Artikels:
Wie bedauerlich, dass der aktuell vorherrschende palästinensische Diskurs jede innenpolitische Kritik an der Hamas zum Schweigen bringt. Dabei kommt immer dasselbe Argument: Jetzt, so heißt es, sei nicht der richtige Zeitpunkt, um die Bewegung zu kritisieren, die allein an der Spitze des Kampfes gegen die Besatzung steht.
Mir war nicht klar, dass der Diskurs auch unter israelischen Arabern dominiert wird von einer zumindest zeitweisen bedingungslosen Unterstützung für die Hamas. Diese Menschen haben Zugriff auf diverse Quellen und waren in der Schulzeit nicht einer Indoktrinierung ausgesetzt durch die UNRWA Hamas, und daher bin ich doch zumindest ein wenig überrascht. Aber dieser Absatz liefert noch mehr:
Die Hamas sei „allein“ an der Spitze des Kampfes gegen die „Besatzung“. Frau Natour ist nicht dumm. Sie weiss sicher, dass Gaza seit 2005 nicht besetzt war, bis Hamas den aktuellen Krieg angefangen hat. Die Besatzung, die sie meint, muss also die in der Westbank (Judäa und Samaria) sein. Dort herrscht die PA, die offenbar als zu schwach oder im schlimmsten Fall als Kollaborateur der Israelis angesehen wird, wenn man behauptet, dass Hamas „allein“ kämpft. Sie berichtet hier im Grunde darüber, dass in den palästinensischen Kreisen, auch unter israelischen Arabern, die Hamas als Repräsentant aller Palästinenser angesehenen wird. Nicht nur der in Gaza. Aber im nächsten Absatz schreibt sie:
All jene, die den säkularen Vorstellungen folgen – und das ist die Mehrheit der Palästinenser und Palästinenserinnen sowohl innerhalb als auch außerhalb des Gazastreifens –, müssen sich gegen die eigene Haltung positionieren.
Die klerikale Hamas sei demnach die einzige, echte Repräsentantin palästinensischer Interessen, aber die meisten Palästinenser:innen sind säkular? Wie passt das zusammen? Nicht wirklich. Ich fürchte, Frau Natour schliesst von sich auf andere und blendet diesen Widerspruch einfach aus. Oder es ist eine Schutzbehauptung.
Es ist, als sei „Wir haben das Recht auf Widerstand“ nicht nur eine temporäre Maßnahme, sondern ein göttliches Gebot. Wichtig ist mir, an dieser Stelle festzuhalten, dass ich unser grundsätzliches Recht als Palästinenser und Palästinenserinnen, uns gegen die Besatzung zu wehren, keinesfalls infrage stelle. Es ist ein Recht, das im Völkerrecht verankert ist.
Frau Natour wohnt in Israel als Israelin. Nach keiner völkerrechtlichen Definition lebt sie unter einer Besatzung, ausser man negiert das Existenzrecht Israels komplett. Wie wir weiter oben schon gesehen haben, betrifft „Besatzung“ wenn überhaupt nur die sog. Westbank. Und der Teil des Völkerrechts, der über Besatzung spricht, regelt die Konflikte zwischen regulären Staaten. Der letzte völkerrechtlich relevante Souverän vor Israel über dieses Gebiet war Jordanien und mit diesem Staat besteht ein Friedensvertrag. Sie macht sich aber die Mühe dieser Differenzierung nicht, im Gegenteil. Sie betrachtet das Recht auf Widerstand als verbrieft, da die Besatzung völkerrechtlich eindeutig sei. Dass sie die Präsenz der IDF in den PA-Gebieten als Besatzung wahrnimmt, will ich gar nicht kritisieren. Das ist ihr gutes Recht und ein vertretbarer Standpunkt. Der quasi-religiöse Glaube an den völkerrechtlichen Status der Besatzung ist aber genau so falsch wie das von ihr als „göttliches Gebot“ betitelte Recht auf Widerstand nach Hamas-Verständnis.
Je massiver und tragischer die Verluste sind, desto größer die Chance für die nationale Befreiung. Demnach sind wir nach dem Völkermord in Gaza nur noch zwei Schritte von der Befreiung entfernt.
In diesem Absatz betont sie, wie ich im einleitenden Absatz bereits positiv erwähnte, dass die Verluste von palästinensischem Leben die Strategie der Hamas sind um die „nationale Befreiung“ zu erreichen. Aber das von ihr genutzte Wort „Völkermord“ zeigt, dass sie nicht aus ihrer Haut kann. Sie sieht nicht, dass dieser Absatz ein Oxymoron ist: Wie kann es ein Völkermord sein, wenn der Tod der Menschen von der Hamas forciert wurde? Und nein, sie meint nicht die Hamas als Völkermörder, denn dann wäre die Aussage stringent. Sie meint ihr Heimatland Israel.
Wir werden nur überleben, wenn wir uns auf den Weg machen, ein alternatives palästinensisches Narrativ zu schaffen, in dem kein Platz für israelisches Blut oder anderes Blut ist.
Mit diesem Satz schliesst sie ihren Text. Und er klingt auf den ersten Blick versöhnlich: Sie fordert die Abschwur vom bewaffneten Kampf. Aber da sie aus dem sicheren Qalansawe in Israel von Überleben schreibt, delegitimiert sie ihre eigene Aussage bereits, bevor sie sie getätigt hat. Denn wenn sie sich selbst einschliesst in dieses Überleben, kann sie nicht ihr persönliches meinen, sonder das des Volkes in seinem nationalen Bestreben. Und das hält jede argumentative Tür für einen weiter geführten bewaffneten Widerstand gegen den Feind offen. Einen Feind, den nicht mal sie als Partner für den Frieden versteht. Sie will den Kampf, sie will ihn nur nicht mehr so blutig.
Aber das reicht nicht für eine Perspektive auf Frieden. Und deswegen ist dieser Text so interessant: Er sagt uns: Wir haben keinen Partner für einen Frieden. Niemanden. Nicht mal eine Frau Natour, die in ihrer Kritik an der Hamas überdeutlich ist. Und das ist eine frustrierende Erkenntnis.

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